Linksrum - Woche 14/2017

Bildlegende

zugespitzt

Stefan Kellers Bildlegenden: Max, Fritz, Paul

Der Journalist und Historiker Stefan Keller hat in seiner Fotosammlung gestöbert, sich erinnert oder recherchiert. Daraus entstanden ist ein wunderbar nostalgischer Buchband. Dem Linksrum stellt Stefan Keller zehn von der Redaktion ausgewählte Bilder samt Legende mit Thurgaubezug zur Verfügung.



Max, Fritz und Paul

Der Mann mit der weissen Fahne heisst Max Daetwyler und ist ein Hotelierssohn aus Arbon, der selber in Bern gewirtet hat. Am achten Tag des Ersten Weltkriegs verweigert er auf dem Kasernenplatz in Frauenfeld den Eid, den Soldaten im Aktivdienst leisten müssen. Er drückt einem Nebenmann das Gewehr in die Hand, läuft nach vorn und ruft, dass er nicht schwören werde, weil er gegen den Krieg sei. Man nimmt ihn sofort in Arrest, reisst ihm die Abzeichen von der Uniform wie einem Verräter. Daetwyler sei bisher «ein tadelloser Soldat und guter Patriot gewesen», schreibt die Thurgauer Zeitung am 7. August 1914. Es scheine sich also «um eine geistige Störung zu handeln». Er kommt nach Münsterlingen in die Anstalt.

Der Mann, dessen Name auf dem Transparent weiter hinten steht, wurde von meinem Grossvater am zweitletzten Tag des Ersten Weltkriegs mit vorgehaltener Waffe angehalten: am 10. November 1918 zwischen Schaffhausen und Zürich, als der Thurgauer Kavallerist Paul Keller im Auftrag des Bundesrates die Schweiz gegen streikende Linke verteidigte und beim Kontrollieren eines Autos Fritz Platten entdeckte, einen Anführer des Streiks. Auch der Arbeitersohn Platten, geboren im sankt-gallischen Tablat, ist gegen den Krieg der Staaten, aber für einen Krieg der Klassen. 1917 hat er die Rückreise Lenins nach Russland organisiert. Ohne Platten hätte die russische Oktoberrevolution eventuell gar nicht stattgefunden. Die Weltgeschichte wäre anders verlaufen. Bei einer Feier für diese Revolution wird Max Daetwyler 1917 in Zürich verhaftet, weil er gegen Rüstungsexporte protestiert. Die Menge will ihn befreien. Die Armee schiesst. Vier Tote liegen auf dem Platz.

Daetwyler bleibt sein Leben lang Friedensapostel, auch im Atomzeitalter. Platten rettet Lenin bei einem Attentat das Leben. Keller bleibt sein Leben lang Bauer, gegen Arbeiter wird er nie mehr eingesetzt. Als das abgebildete Transparent 1948 durch Zürich getragen wird, ist Platten längst tot. Erschossen in einem sibirischen Lager.




Dieser Beitrag ist der letzte aus dem Sammelband Bildlegenden der im Linksrum erscheint. Die Redaktion bedankt sich herzlich bei Stefan Keller für die Zusammenarbeit.
Hat die Lektüre gefallen? Bestellen kann man das Buch bei Marianne Sax' Buchhandlung in Frauenfeld oder in einer anderen Buchhandlung ihrer Wahl.


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